Montessori-Diplomlehrgänge in der Krise

Notizen aus der Praxis 2020 / 2021

von Sönke Held und Tanja Pütz

Der Coronaschock

Die Auswirkungen der Covid19-Epidemie auf die chinesische Gesellschaft, konnte man im Frühjahr 2020 wochenlang in den Medien verfolgen, doch niemand schien sich ernsthaft vor der Ausbreitung des Erregers zu fürchten. Selbst als sich längst abzeichnete, dass sich die Infektionen über Ländergrenzen hinweg zu einer Pandemie auszubreiten drohte, blieb es erstaunlich ruhig. Erst als die Schulen und Kitas von Freitag auf Montag bundesweit geschlossen wurden, kam die Botschaft quasi über Nacht und mit Wucht auch im Alltagsbewusstsein der Bevölkerung an: diese Krise betrifft uns alle, auch mich!   

Seit dem Ausbruch des Coronavirus in Deutschland ist nun ein Jahr vergangen und mittlerweile haben wir alle zu spüren bekommen, dass es lange Zeit brauchen wird, bis wir uns von den Auswirkungen dieser Katastrophe erholt haben werden. Die Impfkampagne ist angelaufen, das macht Mut, gerade unter Elementar- und Grundschulpädagogen, denen in der Impfprioritätenliste ein oberer Platz eingeräumt wurde. Zugleich sorgen aber gefährliche Mutationen und wachsende Sterblichkeitsraten für düstere Aussichten. 

Doch die Erde dreht sich… und ungeachtet der Großwetterlage müssen wir unseren Alltag auch in der Pandemie so gut es geht organisieren und dabei mit dem haushalten, was uns zur Verfügung steht. Ob das Glas dabei halbvoll oder halbleer ist, mag eine Typsache sein. Für uns war bereits in der ersten Woche der Coronazeit klar, dass wir alles daransetzen würden, die von uns verantworteten laufenden Montessori-Diplomlehrgänge aus Trägersicht und Kursleiterinnensicht sicher durch die herausfordernde Zeit zu geleiten. Ein pauschaler Abbruch der Lehrgänge war für uns keine Option. 

Unsere Familie stellt Multiplikationsbretter für Kursteilnehmer/innen her

Krise als Innovationsmotor

Stattdessen haben wir uns aufgemacht, neue Formate zu entwickeln, didaktische Formen zu finden, die es uns ermöglichen, auch in Krisenzeiten der sozialen Distanz den persönlichen Draht zu den Kursteilnehmer/innen nicht zu verlieren und die Seminartätigkeit auf neuen Ebenen fortzuführen. Natürlich sind digitale Techniken auf diesem Weg unverzichtbar, sie bleiben aber nur ein Werkzeug unter vielen. Ein Leitgedanke hat uns dabei gestärkt: Die angepassten Seminarformate stehen einer jahrzehntelangen Lehrgangstradition nicht gegenüber, sondern bauen auf ihr auf. Das ist ein beruhigender und motivierender Gedanke. 

Tatsächlich ist das Internet in seiner Urform eine technische Entwicklung US-amerikanischer Universitäten, federführend des MIT, in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Militär; entwickelt, um eine schnelle Kommunikation zu ermöglichen. Diese sollte auch in Krisenzeiten wie Kriegsszenarien, Naturkatastrophen oder Pandemien eine stabile Kommunikation ermöglichen. Die Covid-Pandemie ist in unserem Kulturkreis der erste Praxisfall, sozusagen ein Stresstest für das Internet. Und wir stellen fest, dass die digitale Technik, bei allen offenkundigen Nachteilen, auch viel Positives bewegt. Natürlich ist ein persönliches Treffen, die Nähe, die sinnliche Erfahrung, nicht durch ein digitales Videoformat zu ersetzen. Aber die digitale Technik schafft zumindest eine Basis, um sich trotz ärgster Beschränkungen in der Außenwelt, über Grenzen hinweg, niedrigschwellig treffen zu können, um in Kontakt und im Austausch bleiben zu können. 

Die Herausforderungen eines online gestützten Lehrgangs, liegen schnell auf der Hand: Wie soll man eine auf Nähe, Empathie und Sinneserfahrungen gestützte Pädagogik in einem digitalen Format vermitteln können? Was passiert mit dem sozialen Zusammenhalt der Gruppe? Wie unterstützt man Teilnehmende, für die der Computer eine technische Hürde darstellt? Wie sorgt man für die essentiellen Sinneserfahrungen mit den Materialien? Wie vermittelt man menschliche Wärme und Zugewandtheit, wenn die Kommunikation nicht ohne gefilterte technische Hilfsmittel auskommt? 

Auf diese Fragen möchten wir mit ein paar Notizen zu unseren Erfahrungen aus der Lehrgangsarbeit der letzten zwölf Monate antworten. Es sind keine abschließenden Antworten. Und erst recht keine Gebrauchsanleitungen. Aber es sind Ideen und Ansätze, die vielleicht auch andere ermutigen, auszuloten, welche weiteren Antworten sich auf die Herausforderungen dieser Krise finden lassen. 

Die Zukunft der Montessori-Dioplomlehrgänge

Die Digitalisierung ist zuallererst dazu gedacht, Abläufe zu vereinfachen, effizienter zu gestalten. Die Herausforderungen der Pädagogik lassen sich aber nicht gruppieren, sie können nicht verallgemeinert und nicht „effizient“ gestaltet werden. Pädagogik und pädagogische Qualität muss sich am Einzelfall bemessenen lassen. Das ist auch in der Erwachsenenfortbildung so. Man kann aber digitale Technik durchaus verwenden, um in standardisierten Abläufen Zeit einzusparen, die an anderer Stelle dringend benötigt wird. Dieses Ausloten und didaktische Reflektieren ist ein zentraler Baustein jetziger und künftiger Lehrgangsarbeit. Die Anforderungen an die Dozentinnen und Lehrgangsleiter/innen verändern sich, verschieben sich. Man kann einen Teil der klassischen Wissensvermittlung in online gestützten Lehrgängen durchaus digitalisieren, benötigt aber umso mehr Zeit für die Rückkopplung an den Lernenden. Was wurde verstanden, wie entwickelt sich das Fachverständnis des Einzelnen im Laufe des Lehrgangs? Denn: eine Raumstimmung, der schweifende Blick in zustimmende oder fragende Gesichter, die geflüsterten kurzen Rückfragen beim Nachbarn – all das entfällt, wenn Präsenzveranstaltungen im digitalen Konferenzraum stattfinden. Den Einzelnen in der Gruppe im Blick zu behalten, das erfordert nun wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Mühe. Mit Blick auf das letzte Jahr können wir resümieren: Der Kontakt zu den Teilnehmenden ist intensiver geworden, persönlicher und individueller. 

Was heißt das konkret für die didaktischen Abläufe im Lehrgang? Einführende Inhalte, die Vermittlung von Wissen, kann durch Formate wie Videos, Podcasts, Interviews, Hörbücher (interaktive) Textdokumente etc. auf passwortgeschützten subdomains der DMV erfolgen. Filme und audiofiles lassen sich nur streamen, nicht runterladen. Die Urheberrechter der Dozierenden und der DMV werden geschützt. Die subdomains können von den Teilnehmenden in individueller Zeitplanung genutzt werden. Von einer Basis ausgehend, lassen sich dann die Gruppen teilen und kleine, intensive Arbeitsgruppen bilden. Ob ein Vortrag live am Bildschirm übertragen oder vom Video abgespielt wird, macht dabei überhaupt keinen Unterschied. Interessant wird ja erst das anknüpfende Gruppengespräch, in dem man sich über die thematisierten Inhalte austauscht. Hier kommt die Qualität der individuellen Betreuung zum Tragen. Und je kleiner diese Gesprächsrunde wird, desto intensiver die Betreuung. Das Zeitkontingent eines gebuchten Dozierenden wird daher für die einzelnen Seminare individuell aufgeteilt. Für die Planung gilt es abzuwägen, welche Betreuungsformen jeweils notwendig und sinnvoll sind – vor allem aus der Perspektive der Teilnehmenden.  

Hier werden Lesedosen und Symbole für die Satzanalyse zusammengestellt

Das Problem mit den Materialien

Das Problem, jedem Teilnehmenden im Lockdown einen Zugang zum Material zu ermöglichen, ist am schwersten zu knacken. Wir haben dazu kalkuliert, Bedürfnisse der Teilnehmenden erfasst, viele Gespräche mit dem Dozierendenteam geführt. Um dieses Problem zu lösen, bedarf es unserer bisherigen Überzeugung nach – neben Geduld und Genügsamkeit – einer Kombination aus allen verfügbaren Lösungsansätzen. So haben wir Material im Gruppensatz angeschafft und ausgeliehen, Materialien nachgebaut, Material nachbauen lassen, Materialien von Teilnehmer/innen aus Haushaltsgegenständen nachempfunden, Materialien im Video vorgestellt, die dann zu einem späteren, gelockerten Zeitpunkt erst von jedem/jeder in die Hand genommen werden können, haben Materialien in besonderen Fällen gezielt nach Hause gebracht und haben eine Materialkiste unter den Teilnehmenden kursieren lassen. Diese Begleitung war und ist sehr zeitaufwendig, aber lohnend, da die Teilnehmenden spiegeln, dass sie so gut arbeiten können und sich gesehen fühlen.   

Individuelle Lernbedürfnisse – auch bei den Teilnehmer/innen der Diplomlehrgänge

Eines ist klar: die individuellen Bedürfnisse und Alltagshindernisse nehmen in der Pandemie zu. Wie gut, dass wir mit Hilfe technischer Möglichkeiten, manche von ihnen auffangen können. So werden durch die digitalisierten Inhalte auch die Fälle kurzfristig Erkrankter, Fragen der Kindernotbetreuungen, das Nachholen verpasster Wochenenden etc. ebenfalls gut aufgefangen. In unseren online gestützten Lehrgängen haben wir eine fast 100% Anwesenheit. Wir hatten bereits eine junge Mutter, die vom Wochenbett aus an einem Seminar teilnehmen konnte oder eine Onlinehospitation in der Freiarbeitsphase einer amerikanischen Montessori-Grundschule, die von einer Teilnehmerin von Hamburg aus per Zoom besucht wurde. Hier gehen neben all den Einschränkungen, die das digitale Leben mit sich bringt, durchaus auch neue Türen auf, die sich gewinnbringend in die Lehrgangsarbeit integrieren lassen. 

Seminarbetrieb online / offline: ein Teil der Teilnehmer/innen nimmt von Zuhause aus teil.

Natürlich kann man sich fragen, ob eine Hospitation denn in den USA stattfinden muss und ob ein Wochenbett nicht auch dazu gedacht ist, um sich ganz bewusst von Alltagsanforderungen fernzuhalten. Diese Einwände wären berechtigt. Tatsächlich ist es aber ja so, dass sehr viele Selbstverständlichkeiten der bisherigen Lehrgangsarbeit zur Zeit schlichtweg nicht möglich sind. Einer Teilnehmerin, die sich aufgrund eines K1-Kontaktes in Quarantäne befindet, also nicht krank ist, aber das Haus nicht verlassen darf, kann die Bereitstellung eines Zoomkanals in den Seminarraum eine individuelle Teilnahme am Seminar ermöglichen. 

Hospitationen

Bei dem Beispiel der Onlinehospitation mögen manchem Montessori-Pädagogen (verständlicherweise) die Haare zu Berge stehen. Doch mit Blick auf das Infektionsgeschehen und die wachsenden Zahlen an Lehrgangsteilnehmer/innen, die darauf warten, ihre Hospitationen wahrnehmen zu können, wird doch schnell deutlich, dass hier ein großer Bedarf besteht, Alternativen zu schaffen. Onlinehospitationen (oder dann besser gleich: Hospitationsvideos) wären eine solche. Sicherlich gibt es auch andere Ideen. 

Selbst wenn die Einrichtungen sich wieder bereit erklären, Hospitanten aufzunehmen, wird die Überlast an Anfragen für längere Zeit zu einem echten Problem. Wir sind derzeit mit einigen DMV-nahen Einrichtungen im Gespräch, um Hospitationsvideos zu erstellen, die den Teilnehmer/innen der DMV-Diplomlehrgänge als Äquivalenz zum Hospitieren zur Verfügung gestellt werden. Erste Erfahrungen  aus ca. 30 Wochenenden bestätigen uns in der didaktischen Vorgehensweise wie uns Rückmeldungen von Lehrgangsteilnehmenden vermitteln. Denn aus dem Erfahrungsgewinn der digitalen Hospitationen kann zumindest der inspirierende Wissensanteil (Wie machen es die anderen?) durch Videos vermittelt werden. Auf dieser Erfahrung lässt sich aufbauen und die eigene Reflexion herausfordern. So lassen wir von den Teilnehmenden z.B. in unseren Lehrgängen eine detaillierte  Vorbereitete Umgebung anhand eines Grundrisses einer bestehenden Einrichtung planen, die durch Hospitationsvideos inspiriert ist. 

Präsenz oder Online ?

Dem tatsächlichen Tun, dem haptischen Erlebnis im Umgang mit Materialien, der Sinneserfahrung fällt in den online gestützten Lehrgängen eine besondere Wichtigkeit zu, da diese Qualität zu kurz zu kommen droht. Arbeiten mit Materialien in häuslicher Umgebung, gestützt durch Lehrfilme und anschließenden Videokonferenzen kann in Phasen eines harten Lockdowns Wege der Lehrgangsarbeit bedeuten. Man sollte aber (und das überdenken wir für jedes Wochenende akribisch) zudem jede Möglichkeit nutzen, um persönliche Treffen möglich zu machen oder digitale Formate zu nutzen, um die Teilnehmer in die Natur einzuladen (audiowalk). 

Fotos von Teilnehmer/innen einer unserer Audiowalks

Bei gutem Wetter und sinkenden Infektionszahlen sind ja, aller Voraussicht nach, auch weiterhin noch vorsichtige Treffen möglich. In angespannterer Zeit können die Lerngruppen soweit unterteilt werden, dass sich nur noch eine kleine Anzahl an Menschen zur selben Zeit trifft, um dann in sicherem Abstand geneinsam Erfahrungen mit dem Material in einer Lernwerkstatt zu sammeln. Je mehr Gruppen man bildet, desto kleiner das Zeitfenster für die Lernwerkstatt der einzelnen Gruppe, aber desto intensiver der Austausch vor Ort. Auch hier ist es im Notfall ausreichend, dem/der Einzelnen eine kurze, intensive Sinneserfahrung mit dem Material zu ermöglichen. Eine Reflexionsrunde mit allen kann dann hinterher wieder in einer digitalen Konferenz erfolgen. Viele der Materialien lassen sich im Übrigen auch mit verhältnismäßig geringem Aufwand selbst herstellen. Manche Teilnehmer/innen nehmen sich solch einer Aufgabe gern an, andere arbeiten in einer Montessori-Einrichtung und haben dadurch eigenständigen Zugang zu Materialien, wieder andere beteiligen sich lieber daran, eine Materialkiste durch die (behandschuhten) Hände der Teilnehmerinnen wandern zu lassen. All das zieht einen erhöhten Logistikaufwand nach sich, eröffnet aber Möglichkeiten. Diese kann man nutzen.          

Digitalisierung und Montessori-Pädagogik

Das Thema „Digitalisierung“ wurde im Kreis der Montessori-Interessierten auch vor Ausbruch der Coronakrise bereits kontrovers diskutiert. Wir haben bislang nichts von der Idee gehalten, die Montessori-Pädagogik digitalisieren zu wollen; liegt doch Ihr Wert und Ihre Qualität für uns und unsere Kinder gerade darin, sich in einer durchdigitalisierten Alltagswelt den Sinn für das eigene, unmittelbare Erleben zu erhalten. Einen Stock kunstvoll zu schnitzen, die Schönheit einer Orchidee zu erforschen und eine Ehrfurcht vor der Betriebsamkeit eines Ameisenhaufens zu entwickeln, dazu wird es auch in den nächsten hundert Jahren immer umsichtiger Erwachsener bedürfen, die sich den kleinen Menschen zuwenden und sie liebevoll dabei begleiten, die Welt zu erkunden. Diese herzliche Kultur aufrecht zu erhalten, dazu möchten wir unseren bescheidenen Beitrag leisten. (Dass hingegen in den Bildungseinrichtungen das Thema „Digitalisierung“ zu kurz käme, wie andernorts zu hören, darüber machen wir uns als Eltern, ehrlich gesagt, überhaupt keine Sorgen.) Eine gesunde Skepsis gegenüber den verheißungsvollen Versprechungen digitaler Technik ist uns also nicht fremd. Um aber in der jetzigen Situation die Fortbildung von jungen Fachkräften im Bereich der Montessori-Pädagogik aufrecht zu erhalten, lohnt es sich, einen intensiveren Blick in die Möglichkeiten der digitalen Technik zu werfen und auszuloten, was davon uns unterstützen kann, um unsere Anliegen auch in der anhaltenden Krisenzeit im Fokus zu behalten. 

Fazit

Eines scheint uns besonders wichtig: der Austausch und das Gespräch über die didaktischen Planungen, Entscheidungen und das Sichtbarmachen von: Gemeinsam gehen wir durch eine Krise und kommen gestärkt und vielen Ideen und neuen Methoden und Arbeitsweisen durch die Zeit und inspirieren uns gegenseitig. Das kann und sollte der Motor der Lehrgangsarbeit sein, so dass die Teilnehmenden auch Inspirationen für die eigene pädagogische (Krisen-)Praxis bekommen.

Die Autoren

Sönke Held, Filmemacher und Geschäftsführer von Montessori Seminar Hamburg 

Tanja Pütz, Professorin für Erziehung und Bildung, Theoriedozentin und Kursleiterin 

Erschienen in der Zeitschrift „MONTESSORI – Zeitschrift für Montessori-Pädagogik“ | 59. Jahrgang (2021) | Heft 1